Unlängst feierte der DFB einen ungewöhnlichen Geburtstag: Gelbe und Rote Karte sind 50 geworden. Herzlichen Glückwunsch, liebe Disziplinarmaßnahmen! Bei der WM 1970 setzte es weltweit die erste „Gelbe“, nachdem ein englischer Schiri bei einer Autofahrt an einer Ampel auf die farbenfrohe Idee kam. Vorher hatte es zwar auch Verwarnungen und Feldverweise gegeben, allerdings nur mündlich.
Fast zeitgleich mit der ersten Roten Karte in einem deutschen Pflichtspiel (Januar 1971) begann hier in Halle die Schiedsrichterkarriere von Ralf Dilling, die nun ebenfalls schon 50 Jahre andauert. Im Interview mit Reinhard Franke erweist sich der heute 61-jährige als Haudegen mit Elefantengedächtnis.
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Alles Gute zum Fünfzigsten, Ralf! Kurz nachgerechnet: Du hast schon mit 11 Jahren als Schiri angefangen? Warum?
Mein Trainer hatte mich für den Lehrgang angemeldet, ohne es mir zu sagen.
Wie bitte?!
Ja, es sollte mir im wahrsten Sinne eine „Lehre“ sein. Er hatte mich vorher zu einem Spiel des HFC mitgenommen, weil ich in seinem Team ein ganz guter Spieler war. Also eine Art Dankeschön. Und dort habe ich dann mächtig den Schiri beschimpft, natürlich zu Unrecht. Das war Günter Männig, nicht gerade ein Unbekannter. Tja, und da hat mich mein Trainer zum Perspektivwechsel quasi gezwungen. Er selbst ist übrigens auch hingegangen – er wollte wohl nicht dümmer sterben als sein Spieler.
Hast du das als Strafe empfunden?
Überhaupt nicht. Ihm war schon bewusst, dass er da den Richtigen zum Pfeifen schickte. Ich hatte ein halbes Jahr vorher kurzerhand ein Spiel in der jüngsten Altersklasse gepfiffen, als mal kein Schiri da war. Aus dem direktem Umfeld der Mannschaften gab es keinen, auf den man sich verständigen konnte. Ich als interessierter Zaungast bekam also den Auftrag – und habe ihn offenbar ganz gut erledigt. Ich musste sogar einen Neunmeter wiederholen lassen, nachdem der Torwart zu früh rausgelaufen war. Der Ärmste hat zu allem Überfluss noch den Ball mitten ins Gesicht bekommen, ging blutend zu Boden. Was für ein Auftakt!
Wie war die Ausbildung damals?
Im November 1970 ging’s los. Wir waren vielleicht so 70 Leute, und ich mit Abstand der Jüngste. Es lief super, bei der Prüfung schaffte ich dann 137 von 150 Punkten. Mein Trainer war übrigens noch besser. Am beeindruckendsten war die Übergabe der Anwärterausweise, am 30.12.1970. Dazu hatte man Rudi Glöckner eingeladen, der erst im Sommer das WM-Endspiel geleitet hatte und darüber einen Lichtbildervortrag hielt. Der Mann war eine Legende. Und ich in der ersten Reihe.
Dann ging’s gleich rauf auf den Platz?
Nee, erst einmal rein in die Halle: Die Hallenkreismeisterschaften der Kinder waren mein erster offizieller Einsatz. Im Februar folgte das erste Freundschaftsspiel, im März das erstes Punktspiel.
Erinnerst du dich an ein besonderes Spiel?
Na klar! Gerade war ich 12 geworden, da musste ich nach Bad Frankenhausen. Ein Derby stand an, heute würde man B-Jugend sagen. Um 4 Uhr früh ging’s mit dem Zug los, die Kinderrückfahrkarte kostete 2,40 Mark damals. Am Bahnhof haben die mich mit einem Geländewagen abgeholt, weil da kein Bus fuhr. Auf dem Land war das immer prima, und man wurde auch versorgt. Klar, man war ja den ganzen Tag unterwegs. Und dann waren da 867 Zuschauer, für ein Jugendspiel! Fürs Spiel gab es übrigens 8 Mark statt der üblichen 5, weil es ein Match auf Bezirksebene war. Dazu 3 Mark Tagegeld.
Und dann ging es immer weiter nach oben?
Nicht so richtig. Ich war in der vierthöchsten Klasse der DDR. Und plötzlich kam trotz guter Beobachtungen ein Brief: Ich wurde degradiert. Ich war eben grundsätzlich ein wenig „unangepasst“, wie man so schön sagt. In ganz jungen Jahren wollte ich nicht Pionierschiedsrichter werden, so eine Art Propaganda-Amt. Das stand dann auch in der Akte. Zu Wendezeiten, ich war gerade erst 30, hatte ich einen Schlaganfall. Ein Jahr später – und sozusagen: ein System später – habe in der neuen Landesklasse wieder angefangen.
Hast du in 50 Jahren auch was verpasst?
Bis auf den Sprung ganz nach oben eigentlich fast nix. Ich habe alle Altersklassen gepfiffen, Männer und Frauen und Mädchen und Knaben. Sogar bei Futsal habe ich mal reingeschnuppert. Und irgendwann war ich dann doch Bundesliga-Schiri – bei den Gehörlosen.
Gibt es so etwas wie den „bewegendsten Moment“?
Ich würde sagen, das war mein Herzinfarkt im laufenden Spiel in Nietleben. Das war im April 2016. Es war Freitagabend, Pokalhalbfinale Alte Herren – lauter altvertraute Gesichter. Ich fiel einfach um. Die Ehefrau vom Torhüter war Krankenschwester, hat mir vielleicht das Leben gerettet. Der Rettungshubschrauber landete auf Platz 2, später habe ich beim Wegfliegen noch gewinkt, berichten andere. Irgendwie hatte ich es noch geschafft, mich selbst um Ersatz zu bemühen. Der arme Kerl: Das Spiel ging im Halbdunkel weiter bis ins Elfmeterschießen. Ich wurde kurze Zeit später operiert, es war wohl knapp. Beim Pokalendspiel habe ich dann zugeschaut. Das sorgte für kuriose Momente, denn es war kurz zuvor das Gerücht umgegangen, ich sei gestorben.
Wem sowas passiert, der hört doch auf!
Nun, im August stand ich wieder auf dem Platz. Ich habe mich da halt wohlgefühlt – und dann sogar meine Rekordsaison mit knapp 140 Einsätzen hingelegt. Nach dem Jahr habe ich dann ein bisschen auf die Bremse getreten. Gesundheitlich ist immer mal was, ich muss aufpassen. Jetzt pfeife ich nur noch Kleinfeldspiele und helfe nur noch in Notfällen im Herrenbereich aus.
Wie lange machst du das noch?
Solange das Kribbeln noch da ist und es gesundheitlich möglich ist. Aber es gibt ja danach noch die Option, Beobachter zu sein, andere voranzubringen. In gewisser Weise mache ich das jetzt schon – als Pate begleite ich die ganz Neuen bei ihren ersten Einsätzen.
Dein größter Fehler?
In Halle-Neustadt. Ich hatte eine Rangelei wahrgenommen, zweimal Rot verteilt. Was auch immer ich da gesehen haben wollte – jedenfalls kam gleich ein ganz anderer Spieler zu mir und hat sich „gestellt“. Ich habe mich für die Ehrlichkeit bedankt, die beiden falschen Feldverweise zurückgenommen und dann haben wir das per Gentlemen’s Agreement gelöst: Der Geständige ließ sich auswechseln, alle waren zufrieden mit der unkonventionellen Lösung. Falsch war’s trotzdem.
Erlebst du einen Unterschied zwischen Ost/West-Zeiten?
Also auf Kungeleien bezogen: Das gab’s damals wie heute. In der DDR wurde mehr auch in untere Klassen reinregiert, man sollte sparsam mit Karten umgehen. Zur Wendezeit hat man dann mal Zeitstrafen ausprobiert, es gab ja noch keine Gelb-Rote Karte. Und schon hatte ich vor 1167 Zuschauern in Schafstädt gleich ein halbes Dutzend davon. Das Spiel stand kurz vor dem Abbruch. Später habe ich erfahren, dass es schon im Hinspiel geknallt hatte, Spielabbruch inklusive. Bei mir kam es nicht soweit, aber ich hatte dann 100 Trunkenbolde auf dem Platz. Aber: Die Anderen haben mich beschützt.
Vielleicht war das damals alles intensiver. Das galt aber auch für die „Dritten Halbzeiten“. Wir saßen oft mit beiden Mannschaften noch lange zusammen. Das war früher üblicher – und es ist erfreulich, wenn es heute ab und an mal noch so läuft.
Was ist dir außerhalb der 90 Minuten am wichtigsten?
Gutes Miteinander. Dass wir alle Freunde werden, ist Fantasterei. Aber in die Augen sehen, zusammenhalten, wenn’s drauf ankommt. Als ich mit dem Hubschrauber in die Klinik flog, hat ein Spieler, der gemeinhin nicht als größter Schiri-Fan galt, mein Auto heimgefahren. Heutzutage streiten wir, auch unter Schiris, viel über Pillepalle.
Hast du Verständnis dafür, dass viele recht bald wieder aufhören?
Ja, das kann ich verstehen. Ich bin erst neulich dabei gewesen, als sie einen Jungen richtig fertigmachen wollten. Da bin ich dazwischen.
Wenn du eine Botschaft für junge neue Schiris loswerden wölltest – welche wäre das?
Schiri zu sein ist eine Berufung – eine Sache, die man mit Herzblut und innerer Liebe machen sollte, die einen aber als Mensch weiterbringt.
Fotos: MT, Karolin Schaffrath, MaLa, Privat
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