Es ist Samstagmorgen in einem gespenstisch leeren Uni-Gebäude am Weinberg-Campus in Halle. In Seminarraum 5.09, ganz weit oben direkt unterm Dach, projiziert ein Beamer einen nicht sehr netten Workshop-Titel auf die Leinwand: „Schiri, wir sehen uns nach dem Spiel!“
Gemeint ist natürlich weder die Einladung auf ein Bierchen noch die ernsthafte Verabredung zu einer sachlichen Analyse. Es ist zwar trotzdem selten, dass man nun wirklich nach einem Fußballspiel unbedingt Handgreiflichkeiten zu erwarten hätte. Aber allein die Aussicht auf eine freudlose dritte Halbzeit kennt wohl jeder Schiri, und macht sein Hobby manchmal nicht gerade, ähm, vergnügungssteuerpflichtig. Und wer als Schiri trotzdem bei der Stange bleibt, wird nicht selten ungläubig gefragt, warum er sich denn das immer wieder antut.
Einige aus dieser Spezies finden sich dann auch ein, unterm Dach. Namensschilder werden beschrieben, und ein achtstündiger Deeskalations-Workshop für Referees im Amateurbereich startet. Direkt vom Deutschen Fußballbund (DFB) initiiert, ausgetragen als Pilotprojekt an zwei deutschen Standorten. Halle ist einer davon, und Paul Geißler ist froh über das Heimspiel an seiner Uni. Soeben hat der hallesche Schiri-Lehrwart sein Studium abgeschlossen. Hat sich dort mit just dem Thema Deeskalation und Gewalt im Fußball beschäftigt. Hat dadurch Kontakte zum DFB geknüpft. Und sitzt (auch deswegen) nun im gleichen Raum wie Dr. Thaya Vester, die nicht nur an der Uni Tübingen zum Thema lehrt und forscht, sondern ihre Expertise auch beim DFB einbringt.
„Ich bin heute mehr zum Beobachten da“, sagt die Wissenschaftlerin und teilt noch vor dem Start Fragebögen aus. Ihre Rolle: Sehen, wie solche Workshops ankommen. Bewerten, was sie leisten können, sowohl für die Referees als auch für „das Spiel“. Gesellschaftlich, wenn man so will. Das jedenfalls ist ein (aufwändigerer und kostenintensiverer) Gegenentwurf zur ersten Idee, Deeskalations-Strategien über die Verbände und deren Lehrwarte top-down bis in die Fußballkreise hineinzumultiplizieren. Schulung im Schneeballsystem, das stieß recht rasch an seine Grenzen. Jetzt geht’s direkt an die Basis.
Schnell zeigt sich auch, warum: Mit millimetertraining ist eine Agentur im Boot, deren Coaches nicht nur hauptamtlich Didaktiker, sondern auch einfach näher am Spezialthema Gewalt/Deeskalation dran sind. Catrin Wagner kommt aus dem Boxsport, Thomas Henckes war Footballer. Muss man noch mehr sagen? [By the way, DFB-Expertin Vester hat Fußball gespielt.] Heute adressiert der Workshop bewusst altgediente Schiris, morgen um die selbe Zeit wendet sich das Trio gezielt an junge Sportfreunde.
Es dauert nur Minuten, da wird der Stuhlkreis aufgelöst. Übungen zur Körpersprache folgen. Bilder und Situationen werden gestellt, gespielt, wiederholt, diskutiert. Immer im direkten Abgleich mit „echten“ Erfahrungen. Manchmal auch mit Videoszenen unterlegt. In der ersten Tageshälfte geht’s darum, die Herausforderungen erst einmal kleinteilig ins Visier zu nehmen, mit der Lupe. „Stellt Euch ein rassiges Spiel vor“, sagt Henckes. „Da ist ja dann überall Benzin vergossen. Aber wo ist der Funke? Wo müsst ihr genau hinschauen?“ Auf welche Situationen kann, ja sollte man sich einstellen?
Tja, und nach dem Mittag geht es dann um die Frage „Was tun, wenn dann einer zündelt?“ Wie reagieren – mit Pfeife, Stimme, Körper, Stellungsspiel? Und – Überraschung – an welchen Stellen einfach laufen lassen, nix tun? „Ja, auch das gibt es. Seid ihr denn für alles verantwortlich?“, fragt Wagner rhetorisch.
Apropos Mittagessen: Bei Hähnchenkeule mit Kroketten gibt’s die Chance, mit dem Trainerteam und der Wissenschaftlerin auf Metaebene zu gehen. Was erwarten die drei Gäste von dem Auftakt in Halle? „Eine Basis für die Forschung, Impulse für die Expertengruppen“, sagt Thaya Vester, die sich mit eigenen Wortbeiträgen (ab)sichtlich zurückhält. Aktuell arbeitet sie an einer Studie zum Sicherheitsgefühl der Schiedsrichter.
Was können die hier Versammelten hinterher vielleicht besser? „Tja, vielleicht könnt ihr systematischer und bewusster das tun, was ihr unterbewusst schon sehr häufig umsetzt“, vermutet Thomas Henckes, „und es strategisch anwenden, damit spielen.“ Und Catrin Wagner ergänzt: „Es ist schon ein Gewinn, sich gegenseitig zu vergewissern, mit denselben Herausforderungen konfrontiert zu sein. Austausch und Bestärkung, auch das ist ein klassisches Workshop-Ziel.“
Der Austausch ist tatsächlich prima, auch weil er zeigt, dass Fußballdeutschland nicht überall gleich funktioniert. In Vesters Heimat Baden-Württemberg organisieren sich Schiris zwischen Verband und Verein in Vereinigungen – hierzulande nicht gängig. Das Tandem Wagner/Henckes fragt die Referees, wer in jedem Spiel eine Art von Rassismus erlebe. Und beide Seiten wundern sich: Die Kölner Coaches darüber, dass keiner aufsteht. Die halleschen Schiris über die Frage als solches. Auflösung: Während beim Match zweier sachsen-anhaltischer Dorfklubs mangels Migrationshintergrund gar kein Nährboden da ist, hatten die Coaches eher Derbys zwischen rivalisierenden Großstadtvereinen der Form „Griechenland gegen Türkei“ vor Augen.
Man stellt die Frage anders: Was ist mit Äußerungen, sobald dunkelhäutige Spieler dabei sind? Nun, das hat der ein oder andere dann doch schon erlebt. Und auch Angst um die eigene Gesundheit sei gelegentlich im Spiel, schildert einer der Anwesenden in offenen Worten. „Schiri, wir sehen uns nach dem Spiel!“ Ganz zu Unrecht steht es eben nicht auf der Folie.
DFB-Workshop in Halle. Das sagen die Referees:
Paul Kamm (24; Kanenaer SV; Schiri seit 2010): Das hat sich absolut gelohnt. Zwei sehr authentische und freundliche Coaches haben auf sehr praktische Weise auch unbewusste Schiedsrichter-Tugenden ins Bewusstsein gerufen und deren Wirkung mit uns analysiert.
Benjamin Andrich (34; Reideburger SV; Schiri seit 2018): Vom Anfang bis Ende sehr gelungen. Erst Theorie durchbesprochen, dann sofort durch clevere Rollenspiele in die Praxis umgesetzt. Nach dem Warm-Up gab es keine Beklemmungen, etwas vorzumachen oder sich zu präsentieren. Großes Lob also an Catrin und Thomas!
Steffen Petrak (37; Blau-Weiß Dölau; Schiri seit 2009): So etwas sollte unbedingt zur Grundausbildung gehören. Regelmäßige Trainings und Analysen für Schiedsrichter wären wirklich sinnvoll.
Kevin Eckert (21; Grün-Weiß Ammendorf; Schiri seit 2018): Ich fand das Seminar klasse. Ich hoffe, das Neugelernte auch schnell umsetzen zu können. Ich würde jedem Schiedsrichter solch ein Seminar ans Herz legen.
Marcel Theumer, SFV-Schiedsrichter-Ausschussvorsitzender (39; Grün-Weiß Ammendorf; Schiri seit 2009): Ich bedanke mich beim DFB und millimetertraining für einen sehr kurzweiligen Workshop mit höchst interessantem Aufbau der Themen. Das können und wollen wir gut in unsere Ausbildung einbauen. Mein Dank geht auch an einen unermüdlichen Paul Geißler für die Organisation und an Referentin Linda Banholzer vom FSA für ihre Teilnahme.
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