Ein Reihenhaus in Halles Norden. Am Wohnzimmertisch sitze ich, der Schreiberling vom örtlichen Fußballverband, mit den beiden Damen des Hauses bei einem Tee. Im Fernsehen läuft ohne Ton ein WM-Spiel, das Feuer im Kamin sorgt für Behaglichkeit.
Aufgeregt bin ich selten, heute schon: Vor mir sitzt, neben ihrer Mutter, eine Nationalspielerin. Das ist es aber nicht, was mich nervös macht. Ich frage mich eher, wie gut wir uns verstehen. Denn Philine Sturm, 21, trägt Hörgeräte.
„Ich habe Glück gehabt“, sagt Philine mit ziemlich normaler Stimme. Die Dinger im Ohr leisten Erstaunliches. Wir können uns ganz normal unterhalten, denn weil sie sich selbst hören kann, formt und vertont sie Worte wie hörende Menschen auch. Tja, und ohne die Dinger im Ohr? Die tiefen Töne in Papas tiefer Stimme, manchmal. Ansonsten klappt’s erst wieder in der Geräuschklasse „Automotor, hohe Drehzahl“. Darunter: nix.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich „Glück gehabt“ ganz anders definiere. Nun, Philine kennt eben andere Schicksale, aus ihrer Community. Ob sie „das“ von Geburt an hat, kann keiner sagen. Mit 3 Jahren kam das Hörgerät. Es folgte ein weitgehend normales Leben, aber Schule und Ausbildung trotzdem in spezialisiertem Umfeld („Sonst hätte ich den Realschulabschluss nicht geschafft. Mit 30 Leuten in einer Klasse – niemals!“). Vor wenigen Tagen ist die 21-Jährige beruflich unter die Haube gekommen, als Malerin. Läuft!
Es ist aber nicht dieser Teil des Lebenslaufs, der mich zu Familie Sturm ins Wohnzimmer verschlagen hat. Vielmehr gibt das T-Shirt, das Philine heute trägt, Aufschluss über den Anlass meines Besuchs: Darauf steht was von EM und Italien und 2022.
Im Oktober ist die Futsal-Nationalmannschaft des Gehörlosen-Sportverbands bei der Deaf European Futsal Championship in Montesilvano auf Platz 4 gelandet. Philine Sturm hat bei der EM ein Tor beigesteuert („Mein persönliches Highlight!“) und eine Gelbe Karte kassiert („Ging nicht anders…“). Man sei zwar schon besser gewesen, sagt die Nationalspielerin und verweist auf Silber in Finnland 2018. Aber das Abschneiden in Italien reicht als Qualifikation für die WM 2023 in Brasilien. Wow!
Trotzdem findet die erfolgreiche Truppe – man verzeihe das Wortspiel – auf großer Bühne wenig Gehör. Vieles spielt sich im Verborgenen ab, man ist nicht im DFB organisiert (hofft aber darauf), im Grunde genommen ist das Titelholen mit dem Bundes-Adler auf der Brust ein Zuschussgeschäft. Es ist eben Nische. Frauen statt Männer. Futsal statt Fußball. Gehörlose statt Hörende.
In ihrer Klasse ist Philine auf weiter Flur allein. Sie hat sich einem Gehörlosenverein aus Dresden angeschlossen, von Halle aus der kürzeste Weg… Man spielt innerdeutsch Turniere, ist bei Erfolg recht schnell im internationalen Geschäft. Die Leistung stimmte, die Nationaltrainer fragten an, Philine sagte glücklich zu. Zwei andere „Dresdnerinnen“ sind auch dabei, aus Sachsen-Anhalt ist die Hallenserin die einzige.
Und warum eigentlich Futsal? „Hm, weil das preiswerter ist und wir das personell einfacher stemmen können.“ Die gehörlosen Männer haben das genau andersherum entschieden, haben ein Fußball-Team. Das ist ein bisschen schade, weil sich die Nationalmannschaften so nicht bei Turnieren treffen.
Erkenne ich da Wehmut in ihrer Stimme? Tatsächlich: „Ich hätte lieber Fußball gespielt“, sagt Philine. So wie sie es unter den Hörenden ja auch tut, bei der SG Einheit Halle in der FSA-Verbandsliga. Ich mache den dümmlichen Witz mit dem Nachnamen, vermute sie im Sturm. Philine schmunzelt: „Nee, eher hinten. Aber irgendwie bin ich Allrounderin. Glaubt zumindest mein Coach…“
Wie ist denn überhaupt das Vereinsleben? Gibt’s da Unterschiede? Ist sie in Halle die „Behinderte“, während sie in Dresden unter vollständig Gehörlosen eben „Glück gehabt“ hat?
Nein, so kann man das wohl nicht sagen. Sie sei hier wie dort prima integriert. Während im Gehörlosensport die Hörgeräte tabu sind und außerdem ein sehr detailliertes ärztliches Zeugnis den Hörschaden genau belegen und einordnen muss (Mutter Jeannette Sturm: „Unser HNO-Arzt ist fast verzweifelt!“), kann der Mann im Ohr bei den Verbandsligaspielen drin bleiben. Außer, wenn es regnet. Dann müssen die empfindlichen Teile raus. „Das zahlt dir keine Versicherung“, weiß die Mama. Und die Tochter ergänzt: Da gehe dann immer ein Ruf durch die Reihen – „Achtung, Phili hat keine Ohren!“
International dabei, also „ohne Ohren“, ist Philine Sturm seit 2015. Erfolgreich zwar, aber weitgehend unterm Radar. Durch einen Zufall hat ihre Mutter von einer möglichen Ehrung mit shitstormsicherem, aber schrägem Titel erfahren, nennen wir es für mehr Klarheit trotzdem mal sinngemäß „Sachsen-Anhalts Sportler des Jahres mit Handicap“. Jeannette Sturm kniete sich rein, schickte allerlei Material über ihre Tochter hin: Volltreffer.
„Hol doch mal her!“, fordert sie ihre Lieblings-Nationalspielerin auf. Philine ist kurz weg, kehrt mit einem echt schönen Glaspokal und etlichen Fotos ins Wohnzimmer zurück. Ich bin überrascht: Ist das neben der Geehrten nicht…. tatsächlich: der amtierende FSA-Präsident! Holger Stahlknecht, seinerzeit zuständiger Minister für Sport. So schließt sich der Kreis. Witzig.
Plötzlich registriere ich ambivalente Gefühle bei Jeannette Sturm. Was’n da los? „Hach“, sagt die, „so stolz ich in dem Moment auch bin, frage ich mich gleichzeitig, warum so eine Ehrung nur deswegen zustandekommt, weil ich mich als Mutter dafür stark mache. Warum interessiert das keinen, während hier [zeigt auf den Fernseher und das WM-Spiel] stundenlang über Manuel Neuers Armbinde gesprochen wird?“
Als ich nach zwei Stunden Gespräch das behagliche Setting verlasse, habe ich viel gelernt. Über Hörgeschädigte. Übers Nischendasein. Über Taschenlampen, die meistens** anderswohin leuchten. Und über Spielfreude und Power. Ich entschwinde in die kalte Nacht in Halles Norden und nehme mir ganz fest vor, das so herzlich und authentisch aufzuschreiben, wie ich es eben serviert bekommen habe.
Reinhard Franke
** Nachtrag, 28. November: Der FSA hält die Taschenlampe drauf
Was Philine Sturm bei unserem Aufeinandertreffen am 22. November noch nicht wusste: Sachsen-Anhalts Fußballverband, der FSA, hat längst eine Überraschung geplant. Beim Pokalspiel ihrer Mannschaft gegen den Regionalligisten Magdeburger FFC am vergangenen Wochenende [Randnotiz: Das Spiel ging 0:6 aus, was kaum anders zu erwarten war.] bekam die Nationalspielerin vor Vertretern von Landes- und Stadtverband höchst offiziell eine „Danksagung für die Teilnahme an Welt- und Europameisterschaften“ überreicht. Deswegen erscheint der Text erst heute. :-)
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